„Amazon kann Frauen nicht verführen“
Technische Gimmicks wie WLAN in stationären Läden sind sinnlos. Stattdessen sollen Geschäfte und Onlineshops Geschichten erzählen und in der Überflussgesellschaft für Orientierung und Verführung sorgen. Denn hier haben selbst Onlinegiganten Nachholbedarf. Das sagen die Unternehmensberaterinnen Silke Linsenmaier und Kristine Fratz im Interview mit etailment.
Frau Linsenmaier, Frau Fratz, auch 2016 sind die Onlinehandelsumsätze im Vergleich zum stationären Geschäft gewaltig gestiegen. Die meisten klassischen Geschäfte können bald dicht machen, oder?
Silke Linsenmaier: Der stationäre Handel ist garantiert nicht tot. Aber zu viele Firmenlenker verlassen sich immer noch auf die Rezepte von gestern. Sie steuern mit einigen wenigen Kennzahlen, verlassen sich zunehmend auf Big Data und hängen im Gedankengefängnis statt neue Zukunfts-Chancen zu nutzen.
Kirstine Fratz: Unsere Studie „Future of femininity“ zeigt, dass gerade bei der sogenannten Generation Y und Z das Thema „Hyper-Individualisation“ wichtig ist. Diese Zielgruppe richtet ihren Fokus auf die Erfüllung ihrer persönlichen, individuellen Wünsche beim Einkauf. Sie haben Warten kaum gelernt, suchen immer neue Impulse und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Darum lieben sie das Onlinebusiness, doch der stationäre Handel ein riesiges Potenzial. Die Gesetze im Internet übertragen sich mehr und mehr auf das reale Leben.
Linsenmaier: Leider beobachten wir häufig, dass viele Unternehmen noch im alten Zeitgeist feststecken. Es regiert nach wie vor eine Übersättigung der Systemflächen. Dabei ist der Massenkonsum definitiv tot. Die Kunden haben es satt, sich durch Warenberge zu wühlen. Die alten Erfolgsrezepte des Handels schmecken ihnen nicht mehr. Ganzjährige Preis- und Rabattschlachten sind das Ergebnis.
Der stationäre Handel versucht aber sich zu modernisieren – durch Technik in den Läden: WLAN, Tweetmirrors, Roboter als Einkaufsbegleiter.
Fratz: Die Menschen im 21. Jahrhundert sind angetreten, die Welt zu einer neuen, besseren machen. Sie stellen ihren Lebensstil, ihre Werte und damit auch ihre Konsumgewohnheiten komplett in Frage. Der neue Kunde hat ganz neue Wünsche und Bedürfnisse. Retail 4.0 stellt Industrie und Handel vor die Herausforderung, vom austauschbaren Anbieter zum fürsorglichen Gastgeber zu werden, der verwöhnt und begeistert. Der den Kunden das gibt, von dem sie noch gar nicht wissen, dass sie es wollen.
Was soll an WLAN falsch sein? Man kann schnell per Smartphone ein Foto des Produktes an seine Frau schicken um Rat einzuholen.
Fratz: Mag sein. Sie statten ihre Läden mit i-Pads und virtuellen Gadgets aus – und wundern sich, warum die Frequenz nicht schlagartig in die Höhe schießt. Was gewinnt der Händler effektiv durch WLAN, außer, dass der Kunde im Geschäft online vielleicht nach besseren Preisen suchen kann? Kunden kommen doch nicht wegen kostenlosem Internet ins Geschäft.
„Beacons gehören zur männlich geprägten Wunschwelt des Einkaufens.“
Sie ernüchtern die Händler.
Linsenmaier: Warum? Der stationäre Handel muss sich mit Excellence in Empathie neu erfinden und nicht versuchen, die komplette Onlinewelt auf die Fläche zu übertragen.
Manches lässt sich doch vereinen.
Fratz: Richtig, es geht darum, die Vorteile zu vereinen. Die verlängerte Ladentheke per Tablet-PC oder Touchscreen im Geschäft etwa. Auch die Lieferung der Ware zum Kunden nach Hause ist ja eine Anleihe aus dem Onlinehandel.
Vor einigen Jahren waren Beacons das große Thema. Davon redet heute niemand mehr, oder?
Linsenmaier: Beacons gehören zur männlich geprägten Wunschwelt des Einkaufens. Doch 80 Prozent der Kaufentscheidungen werden von Frauen bestimmt oder zumindest mitgetragen. Frauen fühlen, denken und kommunizieren anders als Männer. Technik ist nicht die Antwort.
Sind Beacons Zeitgeistfallen, von denen Sie gerne sprechen?
Linsenmaier: Allerdings. Wir sprechen von der „Unternehmerfalle Trend“. Der Wunsch nach einem Patentrezept für alle. Doch was für das eine Geschäft richtig ist, kann für das andere falsch sein. Wer sich vom Wettbewerb abheben möchte, sollte die geheimen Wünsche und Bedürfnisse der Frauen kennen. Die Kundin sucht offline, was online längst geboten: schnelle Orientierung, perfekte Vorauswahl, der persönliche Service mit Flirtfaktor.
Ein beliebtes Schlagwort ist Storytelling. Sagt jeder. Aber versteht den Begriff auch jeder? Online, wie stationär?
Linsenmaier: Das ist einfach. Die Kunden wünschen sich ein Erlebnis, sie wollen eine Geschichte erzählt bekommen. Es geht um die Umsetzung in eine stimmige Werte- und Erlebniswelt über alle Touchpoints. STOREtelling lädt die Kunden ein, mit allen Sinnen zu genießen, verführt zu werden und ein Marken-Erlebnis zu haben.
„Amazon schenkt den Kunden das wichtigste Gut: Zeit“
Schön, schön, aber was ist eine Geschichte?
Linsenmaier: Die Mall of Berlin liefert eine gute…
…naja, das Center läuft doch schlecht.
Linsenmaier: Stimmt, aber das war ja nicht die Frage. Wenn der Kunde dort einkaufen gehen, taucht er in eine besondere Welt ein, die eine Geschichte erzählt. In den Läden von Massimo Dutti oder Marc O´Polo beispielsweise gilt das ebenfalls – auch in deren Onlineshops.
Welche Story erzählt Amazon? Die Website ist nicht aufregend.
Linsenmaier: Der Erfolg von Amazon beruht auf Vorauswahl, Beratung in Form von Kundenbewertungen, Empfehlungen von anderen Kunden und der unkomplizierten, schnellen Zahlungsabwicklung. Amazon schenkt den Kunden das wichtigste Gut: Zeit.
Kann man eigentlich heute noch von „dem“ Kunden sprechen?
Fratz: Es geht nicht mehr um die klassische Zielgruppenausrichtung, alles fließt heute in einander. Die neuen Kundenbedürfnisse werden im postdigitalen Zeitalter gerade in anderen Lebensbereichen trainiert und machen sich bereit, auch den Handel zu erobern. Erfolgspotentiale der Zukunft sind Themen wie Excellence in Empathie, Smart Mama und Hyper-Individualisierung.
Weil es in unserer Überflussgesellschaft den Hang zur Komplexitätsreduzierung gibt, wie der Psychologe Stephan Grünewald formuliert.
Fratz: Richtig. Es geht aber auch um Verführung. Und hier hat auch Amazon noch viel Nachholbedarf. Amazon ist ein Bedarfsdecker, aber kein Lusterwecker. Gerade wir Frauen wollen verführt werden, und hier hat der Onlinehandel noch ein riesiges Potenzial.
Wenn die heute Generation der Teenager erwachsene Konsumenten werden, was erwartet diese Generation vom Handel?
Fratz: Wem von klein auf suggeriert wurde, er sei etwas ganz Besonderes und verdiene nur das Allerbeste, der hat auch im späteren Leben hohe Ansprüche und Erwartungen. Dazu gehört eine maßgeschneiderte Handelswelt, die individuelle Bedürfnisse befriedigt.
„Neue Statussymbole sind Freiraum für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation. Es geht um immaterielle Werte und Prinzipien und nicht mehr um Status durch Besitz.“
Liegen hier die Chancen bei Start ups, die moderner denken?
Linsenmaier: Sicherlich. Wenn Sie die tatsächliche Erfüllung der Kundenwünsche in den Vordergrund stellen, werden Sie kanalunabhängig erfolgreich sein.
Wird das Kaufen und Besitzen von Ware überhaupt noch wichtig sein für die Menschen? Nicht ohne Grund bieten ja Media-Markt und Otto neuerdings Geräte zum Mieten an. Warum soll man sich eine Bohrmaschine kaufen, die man vielleicht einmal im Jahr benötigt?
Linsenmaier: Neue Statussymbole sind Freiraum für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation. Es geht um immaterielle Werte und Prinzipien und nicht mehr um Status durch Besitz.
Also sind auch die Onlinehändler erfolgreich, die nicht nur Algorithmen vertrauen, sondern Menschen einsetzen?
Fratz: Sie brauchen als Zeitgeist-Unternehmer die Mischung aus beidem. Wenn Sie die Kunden mit innovativen Konzepten begeistern die ihre Gefühle und Sehnsüchte wirklich treffen, machen Sie Kunden zu Fans. Online wie offline.
(Quelle: etailment – Das Digital Commerce Magazin von Der Handel)
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